Aus der Rubrik “Fälle aus der Praxis” des Landesbeauftragten für den Datenschutz Niedersachsen:
Das Kind eines Empfängers von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II) –, dem sogenannten Arbeitslosengeld II (ALG II), wird 15 Jahre alt. Der Jugendliche besucht die 10. Klasse eines Gymnasiums und beabsichtigt einen weiterführenden Schulbesuch bis zur Erlangung des Abiturs.
Eine entsprechende Schulbescheinigung mit Angabe des voraussichtlichen Abschlussjahres wurde der zuständigen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) bzw. dem zuständigen Jobcenter, von dem der Erziehungsberechtigte Leistungen bezieht, vorgelegt.
Der Jugendliche wird aber von der zuständigen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) bzw. dem zuständigen Jobcenter selber schriftlich aufgefordert, dort vorzusprechen und sein letztes Schulzeugnis vorzulegen.
Muss das Schulzeugnis im Rahmen der zum Leistungsantrag vorzulegenden Nachweise vorgelegt werden? Reicht nicht die Vorlage einer Schulbescheinigung aus?
Nach § 7 Absatz 1 SGB II erhalten Leistungen Personen, die das 15.Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind.
Erwerbsfähig ist nach § 8 Absatz 1 SGB II, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Arbeitsbedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Von Seiten einer ARGE/eines Jobcenters ist daher bei Vollendung des 15.Lebensjahres eines Leistungsempfängers zunächst grundsätzlich anzunehmen, dass dieser hilfebedürftig und erwerbsfähig ist.
Nach § 3 Absatz 2 Satz 1 SGB II sind erwerbsfähige Hilfebedürftige, die das 25.Lebensjahr noch nicht vollendet haben, unverzüglich nach Antragstellung auf Leistungen nach dem SGB II in eine Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit zu vermitteln. Hierbei liegt der Fokus zunächst auf dem Erreichen eines schulischen oder berufsqualifizierenden Abschlusses.
Um somit über den schulischen oder beruflichen Werdegang des 15-jährigen Leistungsempfängers informiert zu sein und um ggf. rechtzeitig beratend und unterstützend tätig werden zu können, ist die Vorlage von Schulbescheinigungen erforderlich und aus datenschutzrechtlicher Sicht unbedenklich.
Soweit der Arbeitsgemeinschaft/dem Jobcenter rechtzeitig mitgeteilt wurde (anzunehmen wäre hier eine zeitnahe Mitteilung nach Erhalt des Zeugnisses des 1.Schulhalbjahres der 10. Klasse), dass der Jugendliche nach Abschluss der 10. Klasse (weiterhin) ein Gymnasium besuchen wird, reicht es, wenn die ARGE/das Jobcenter sich dieses vermerkt und um Vorlage einer Schulbescheinigung zum Beginn des 11. Schuljahres bittet.
Zur Anforderung von Zeugnissen liegen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) keine Erkenntnisse vor, dass die ARGEn/Jobcenter grundsätzlich unabhängig vom Einzelfall Schulnoten erheben.
Die Anforderung von Schulnoten im Einzelfall wird jedoch als erforderlich und damit datenschutzrechtlich als zulässig erachtet.
Gemäß § 14 Satz 2 SGB II werden erwerbsfähige Hilfebedürftige durch Benennung eines persönlichen Ansprechpartners mit dem Ziel der Eingliederung in Arbeit unterstützt. Aufgrund dieser Integrationsverantwortung begleiten die persönlichen Ansprechpartner den Ausbildungs- bzw. schulischen Werdegang jugendlicher erwerbsfähiger Hilfebedürftiger und beobachten den Eingliederungserfolg, um bei Bedarf steuernd einzugreifen.
Für eine erfolgreiche Integrationsarbeit mit den Jugendlichen ist die Einsichtnahme in Zeugnisse ein wichtiges Instrument. Diese erfolgt regelmäßig im Einverständnis des Jugendlichen.
Die Arbeit mit Jugendlichen und die Begleitung des Integrationsprozesses basieren auf einer möglichst detaillierten Kenntnis des individuellen Beratungsfalles. Schulzeugnisse sind hierfür ein wesentliches Element. Ohne sie können Fehlentwicklungen im schulischen Werdegang nicht erkannt und folglich kann nicht gegengesteuert werden. Die Vorlage von Schulbescheinigungen ist hierfür nicht ausreichend, da diese nichts über den Verlauf und Erfolg des Schulbesuchs aussagen.
Mit Hilfe von Zeugnissen können z.B. Schullaufbahnberatungen (ggf. unter Beteiligung der Berufsberatung der Agentur für Arbeit) oder andere Beratungsangebote empfohlen oder Gespräche darüber geführt werden, ob ein Schulwechsel sinnvoll oder gar erforderlich ist.
Auch kann hierdurch auf die rechtzeitige Anmeldung für andere Schulformen (feste Termine, in der Regel Februar/März) geachtet und die weitere Einschaltung von Dritten (z.B. Psychologischer Dienst, Ärztlicher Dienst, Übergangscoaching) koordiniert werden.
Erfolgreiche Integrationsarbeit setzt darüber hinaus aussagefähige Bewerber- und Stellenprofile voraus. Um die Eignung jugendlicher erwerbsfähiger Hilfebedürftiger für schulische oder berufliche Ausbildungsgänge feststellen zu können, ist es erforderlich, „beratungs- und integrationsrelevante“ Tatsachen (Neigungen, Leistungsfähigkeit sowie Beschäftigungsmöglichkeiten und Anforderungen der angebotenen Stellen) zu erfragen, und u.a. durch die Vorlage von Zeugnissen zu belegen.
Arbeitgeber fordern im Rahmen von Auswahlverfahren die Vorlage der letzten Zeugnisse. Vielfach sind bestimmte Noten Bestandteil der Anforderungsprofile, die bei Auftragserteilung in den ARGEn/Agenturen für Arbeit von Seiten der Arbeitgeber formuliert werden.
Vor diesem Hintergrund haben die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in der Regel eine Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Absatz 2 SGB II mit der ARGE/dem Jobcenter abzuschließen.
Erwerbsfähige Hilfebedürftige müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und aktiv an allen Maßnahmen zu ihrer Eingliederung mitwirken.
Eine Maßnahme zur Eingliederung kann auch der Besuch einer Schule sein, da sich mit einem Schulabschluss (und somit verbesserter Qualifikation) die Integrationschancen deutlich erhöhen.
Im Falle eines Schulbesuches ist daher die Vorlage eines Zeugnisses Inhalt der Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Absatz 2 SGB II.
Soweit eine entsprechende Eingliederungsvereinbarung für den schulischen Werdegang mit einem Jugendlichen abgeschlossen wird, kann danach die Vorlage von Zeugnissen grundsätzlich gefordert werden. Inwieweit die Vorlage im jeweiligen Einzelfall tatsächlich erforderlich ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Der Jugendliche oder deren Erziehungsberechtigter sollte/n daher die zuständige Arbeitsgemeinschaft/das zuständige Jobcenter nach den Gründen für eine individuelle Anforderung eines Schulzeugnisses fragen.
Sollte ein Jugendlicher beispielsweise „schlechte Noten“ in einem Umfang haben, der befürchten lässt, dass sich bei dem (weiteren) Schulbesuch eines Gymnasiums (ab der 11. Klasse) erhebliche Schwierigkeiten ergeben (z.B. nicht empfehlenswerte Fachrichtung, nächste Versetzung gefährdet, Klasse wiederholen), könnte dieses als Anlass für entsprechende Beratungsangebote zum weiteren schulischen und beruflichen Werdegang genommen werden.
Entsprechende Beratungsangebote sollten allerdings auch im Interesse des Erziehungsberechtigten und im Interesse des Jugendlichen stehen, um einen erfolgreichen und individuell angepassten schulischen und beruflichen Werdegang des Jugendlichen zu gestalten sowie alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit des Jugendlichen auszuschöpfen.
Würden schlechte Noten und/oder z.B. außergewöhnlich viele Fehltage von einem Schüler zu vertreten sein, (z.B. aufgrund einer negativen und motivationslosen Grundeinstellung) und damit die Eingliederung in Arbeit durch fehlende Mitwirkung gefährdet, wäre hier neben den Beratungsangeboten zur weiteren Gestaltung des Werdegangs ggf. auch die Möglichkeit der Leistungskürzung – oder -versagung aufgrund der in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarten Grundpflichten und der Folgen der Verletzung der Grundpflichten gegeben.
Dieses ist aber von den Gegebenheiten des Einzelfalls abhängig zu machen, um festzustellen, ob entsprechende Maßnahmen wirklich erforderlich sind, um dem Jugendlichen seine Mitwirkungspflichten zur (späteren) Eingliederung in Arbeit durch das Erlangen einer entsprechenden schulischen Qualifikation und seiner Verpflichtung zur Mitwirkung an der Beendigung oder Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit zu verdeutlichen.
Die ARGE bzw. das Jobcenter hätte als zuständiger Leistungsträger bei solchen Gegebenheiten also im pflichtgemäßen Ermessen über die Erforderlichkeit der zu treffenden Maßnahmen zu entscheiden.
Sollte eine entsprechende Eingliederungsvereinbarung mit dem Jugendlichen jedoch nicht abgeschlossen worden sein, wäre eine Anforderung eines Zeugnisses nur mit dem Hinweis auf die Folgen der Verweigerung der Vorlage und ohne konkrete Angabe des Zwecks der Vorlage als nicht erforderlich und somit unzulässig anzusehen.
In diesem Falle ist zu empfehlen, mit dem zuständigen Sachbearbeiter in der ARGE/im Jobcenter zu klären, warum dennoch eine Zeugnisvorlage gefordert wurde.
Link zum Originalbeitrag: http://www.projekt-eu-dlr.niedersachsen.de/fd_live/falldaten/show.php3?id=26&_psmand=6